Ich lebte

Marie Luise Kaschnitz

Aufnahme 2018

I
Ich lebte in einer Zeit,
Die hob sich in Wellen
Kriegauf und kriegab,
Und das Janusgesicht
Stieß mit der Panzerfaust
Ihr die bebänderten Wiegen.

Der Tausendfüßler, das Volk,
Zog sein grünfleckiges Tarnzeug
An und aus,
Schrie, haut auf den Lukas,
Biß ins Sommergras
Und bettelte um Gnade.

Viel Güte genossen
Die Kinder,
Einigen schenkte man
Kostbares Spielzeug,
Raketen,
Andern erlaubte man,
Sich ihr eigenes Grab zu graben
Und sich hinfallen zu lassen tot
Zu den stinkenden
Schwestern und Brüdern.

Schwellkopf und Schwellbauch
Tafelten, wenn es bergauf ging,
Zander und Perlwein.
Die Erdrosselten saßen
Die Erschossenen mit am Tisch
Höflich unsichtbar.

Um den Himmel flogen
Selbständig rechnende
Geräte, zeichneten auf
Den Grad unsrer Fühllosigkeit
Den Bogen unsrer Verzweiflung.

In den Sperrstunden spielten
Abgehackte Hände Klavier
Lieblichen Mozart.

II
Und rasch war die Zeit, meine Zeit,
Wer von Pferden gezogen zur Welt kam,
Verließ sie im Raumschiff.
Wem Aladins Wunderlampe
Aufs Lesebuch schien,
Entziffert im Flutlicht
Den Vers seines Alters.

Solange ich denken kann,
Gingen Uhren immer zu schnell.
Türme wuchsen sich selbst
Über den Kopf,
Läufer überholten sich selbst
Auf der Aschenbahn.

Im Echo der Zwölfuhrkanone
Erblühte das Nachmittagsrot,
Am Abend wurde der Morgen ausgeschrieen
Und im Sommer die künstliche Weihnacht.

Schnell schoß der Same ins Kraut
Und die Knospe ins Schattenblatt,
Schnell reifte das Fruchtfleisch
Und der Wurm im Fruchtfleisch.

Mit Ruten peitschten wir
Die Jahre aus der Welt
Und traten voll Ungeduld
Unter die Erde die Toten.

Es wurde gebaut übernacht
Ein tausendfenstriges Haus
Am Hudson am Main
An den Ufern des Bosporus
Und ein Ding, es zu wandeln in Staub
Übernacht.

III
Freigebig war die Zeit, in der ich lebte,
Sie stieß ihren Kindern die Ohren voll
Mit Warnschrei und Gratismusik.
Überhäufte mit Brandschutt und Rosen
Ihnen die zitternde Netzhaut.

Sie gaben ihnen Hemden aus Nessel
Und Hemden aus Seide
Häuser aus Stein
Und Häuser aus Winterkälte
Stacheldrahtzäune
Und Sterne von Afrika.

Abgelaufen die eisernen Kinderschuhe,
Vergnügte sie sich, eine lüsterne Blaubärtin.
Paukte und blies uns ins Zimmer den Krönungszug,
Bettete uns aufs Kissen das Tränengesicht
und auf die Schwelle den Leichnam des toten Rebells.

Ihre Überallaugen erspähten uns,
Ihre Überallohren belauschten uns,
Ihre Überallhände griffen uns auf,

Wenn wir flohen kleinwinzig
Labyrinthischen Schrittes
Durch Farren und Moose
Wir entkamen ihr nicht.

IV
Und laut war die Zeit, meine Zeit,
Wenn sie hinfuhr ins Leere
Mit stampfenden Kolben
Und surrenden Rädern,
Rauschend lichtblitzend
Die gewaltige Herrin.

Brüllend formte die Träumerin
Aus rostroter Asche
Gebilde der Urwelt,
Aus nachtschwarzem Eisen
Gehege von Dornen.

Immer wollte sie mit der Sprache heraus,
Die verzerrte sich ihr im Munde
Überkam uns ein Zanken
Stymphalischer Vögel
Ein Gelächter von Geistern.

Wenn sie hinfuhr
Die stolze Schwangere
Ihres Weges und keiner wußte
Was ihr den Mantel hochstieß,
Ein Busch junger Rosen
Ein knochiges Totenkind -

V
Und doch in der meiner Zeit
Kamen Kinder aus Mütterleibern,
Schleimige Lurche noch immer,
Und wurden, auch die späteren Ungeheuer,
Mit Weihwasser begrüßt
Und Schrei der Freude.

Mund auf Mund gepreßt
Der Liebenden bäumte sich auf
Gegen die Einsamkeit,
Und ein altes Entzücken
Überströmte noch immer
Glitzernd das Steinfeld.

Angst zu sterben
Und Angst zu leben
Hielten sich die Waage noch immer.
Natur trug unbekümmert ihr altes Gewand
Herzzerreißende Schönheit.
Das Leben war noch immer ein Geheimnis,
Der Tod ein andres.