Deutscher Schicksalstag

Und wieder der deutsche Schicksalstag, der neunte November, der durch unsere Geschichte geistert wie ein heftiger, unheimlicher Schatten. 1918, 1923, 1938 und schließlich als Auflösung, als Lösung jahrzehntelanger Verstrickung, Verhärtung und Verwirrung – so empfinde ich es wenigstens – der 9. November 1989, der Fall der Berliner Mauer und mit ihr der Fall der zweiten deutschen Diktatur.

Aber mit vollem guten Bedacht gedenken wir vor allem des 9. November 1938, des ersten offen und öffentlich durchgeführten Pogroms gegen deutsche Juden, den die Nazis noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieg entfesselten. Der Tag, der den Wendepunkt markiert von schleichender Diskriminierung und Ausgrenzung zu Unterdrückung, Verfolgung, Genozid. Das unlöschbare Mal, der Makel unserer Geschichte, dem auch wir, die Nachgeborenen und die nächsten Generationen uns stellen werden müssen, zu dem auch wir, wenn auch frei von individueller Schuld, uns werden verhalten müssen, in verpflichtender Verantwortung für die Last des geschichtlichen Erbes, das wir als die Nachfahren der Täter nicht ausschlagen können sondern unausweichlich annehmen müssen. Und das auf unbegreifliche, ja unerträgliche Weise unlösbar verbunden bleibt mit all dem Schönen, Wunderbaren und Wertvollen, das auch auf deutschem Boden entstanden und gewachsen ist und Deutschlands Rang als Kulturnation begründete.

Ja, wir Nachgeborenen, auch wir tragen. Mögen wir dazu beitragen, dass der Ent-menschlichung des Menschen, wo immer wir ihr auch begegnen, auch in kleinen, scheinbar unscheinbaren Zusammenhängen, die sich in der Funktionalisierung, der Instrumentalisierung, der Effektivierung des Individuums zeigen, entschieden Widerstand entgegengesetzt wird. Diese Tendenzen sind ja keineswegs auf totalitäre Systeme beschränkt, sie sind auch hier und jetzt bei uns wirksam und erfordern unsere Aufmerksamkeit, unsere Wachsamkeit, jedenfalls mehr Engagement und Zivilcourage, als für das Ausfüllen von Stimmzetteln benötigt wird.

Ja, wir Nachgeborenen, auch wir tragen. Mögen wir Schritt für Schritt, Stück für Stück, Schicht für Schicht Strukturen und Verhältnisse abtragen, die zur Verfügbarkeit des einzelnen führen, zu seiner Zurichtung, seiner Abrichtung. Zunächst zu seiner Unterordnung unter fremde ökonomische Interessen und in der Konsequenz zu seiner zunehmend fremdbestimmten, fremdgesteuerten geistig-moralischen Entmündigung.

Dieser Prozess ist nicht abzuschließen, er ist nicht ein für allemal zu gewinnen, es ist die Aufgabe des Sisyphus, immer wieder aufs neue den Felsblock bergauf zu schleppen, ihn immer wieder bergab rollen zu sehen. Wir sind Menschen, nicht Götter. Unsere Wahrheit liegt nicht in unserem Standpunkt sondern in unserem Weg. Und es ist unser Weg, der zählt, nicht unser Ziel.

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