Ein Weihnachten
Theodor Kramer
Aufnahme 2020
Es winkte mir kein Baum mit Christbaumkerzen;
sechs Wochen erst war ich aus der Armee
entlassen, dichter lag in meinem Herzen
als ringsum in der großen Stadt der Schnee.
Die harschen Steige lagen schon verlassen,
die Buckel knarrten, und es war noch hell;
ich irrte ziellos durch die kleinen Gassen
und unversehens stand ich vorm Bordell.
Ich öffnete die wohlbekannte Türe –
und wandte mich zutiefst beschämt zum Gehn;
mir war, als würden mir die Silberschnüre,
die goldnen Sterne in die Augen sehn.
Der Tisch war für die Gäste schon gerichtet;
den Braten trug das dralle Ding vom Land
herein, sie sah mich, und ich stand vernichtet.
Dann nahm sie still mich freundlich bei der Hand.
Und vor den Leuten, die beladen kamen,
gab sie mich leicht als einen Vetter aus;
ich sang die alten Lieder, heilgen Namen,
und teilte froh mit jung und alt den Schmaus.
Und als ich ging mit ihren letzten Gästen,
rief auf der Stiege mich ihr Blick zurück;
und zwischen Christbaumschmuck und Kerzenresten
genoß gerührt ich unverdientes Glück.